Reflexionen

Kontraste der Kulturen

Geprägt worden bin ich von verschiedenen Kulturen, vor allem denjenigen in Deutschland, Russland und Usbekistan. Was eine Kultur ausmacht, lässt sich mit wenigen Worten nicht umfassend erklären. Beispielhaft möchte ich hervorheben, was für mich besonders wichtig gewesen ist:

In Usbekistan: die Rhythmen in der traditionellen Musik (5/8, 7/8); der allgegenwärtige Gesang; die Farben und Gerüche; die Vielfältigkeit.

In Russland: die Metrik und Phrasierung der Sprache mit ihrem Einfluss auf Metrik und Phrasierung der Musik; der umschreibende Charakter der Sprache, der zu einer weniger begrifflichen als bildhaften Präzision führt; die Lyrik; Landschaften und Licht des Nordens; die Maßlosigkeit, die Volkslieder, die Lehrtraditionen.

In Deutschland: der prägnante Sprachrhythmus mit seinem Einfluss auf das musikalische Empfinden; die Präzision der Sprache; die Systematik in Sprache und Denken; die verbreitete Neigung zur Selbstreflexion.

Ich denke, dass Leben in verschiedenen Kulturen die Selbsterkenntnis prägt, weil man von außen, aus der Perspektive einer fremden Kultur einen neuen Blick auf sich selbst erhält. Zugleich wird das Einfühlungsvermögen entwickelt, weil man lernt, sich von außen kommend in eine neue Kultur einzuleben. Auf die Interpretation übertragen, bedeutet dies: Man gibt seiner künstlerischen Persönlichkeit ein breiteres Fundament, und man ist zugleich offen, sich in Werke unterschiedlicher Komponisten und Stile einzuleben. 

Musik, die ich vermitteln möchte


Ein frischer Zugang zu russischem Repertoire

Ich möchte vermitteln, dass russische Musik wertvollen Genuss und Freude am Anspruch bietet und dass es sich für das Publikum lohnt, sich mehr und tiefer mit ihr zu befassen.

Noch immer scheint die Meinung verbreitet zu sein, dass russische Musik mit Pathos und Melodienseligkeit getränkt sei. Man lässt sich gerne ab und zu von den wichtigsten „Schlachtrössern“ (Tschaikowsky, 1. Klavierkonzert; Rachmaninov, 2. Klavierkonzert) mitreißen, zählt sie aber vielleicht nicht zur ganz großen Kunst. Zwar sind relativ viele russische Komponisten zumindest dem Namen nach im Westen bekannt, aber nur relativ wenige ihrer Werke.

Ich möchte zeigen: Es gibt eine große Vielfalt an wertvollen, aber verhältnismäßig unbekannten Werken russischer Komponisten; ich bin überzeugt, dass das Publikum gerade dann, wenn es einen Komponisten schon kennt, neugierig auf solche seiner Werke ist, die es noch nicht kennt. Außerdem steckt in der – bekannten wie unbekannten – russischen Musik jenseits aller Klischees ein großes Potential: durchdachte Formen, Polyphonie, Polyrhythmus, versteckter Humor, tiefsinnige Lyrik, farbige Bilder.

Ein neuer Blick auf deutsches Repertoire

Im deutschen Repertoire ist mein Bestreben, die breite Palette meiner Ausdrucksmöglichkeiten und Klangfarben zur Geltung zu bringen. Zugleich lege ich größten Wert auf die bewusste Erarbeitung von Details, klare Herausarbeitung von Strukturen, kultivierte Artikulation und lebendige Polyphonie.

Ein neugieriger Zugang zu zeitgenössischem Repertoire

Mit zeitgenössischem Repertoire möchte ich mich auch künftig intensiv befassen. Ich bin neugierig und ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich das Konzertpublikum hiervon anstecken lässt. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass speziell diejenige moderne Musik ein größeres Publikum finden kann, die einerseits anspruchsvoll, andererseits aber auch mit Interesse „hörbar“ ist. Mit anderen Worten denke ich, dass viele Menschen musikalische Erfahrungen suchen, die sowohl jenseits des gängigen Repertoires, als auch jenseits der Unterhaltungsmusik, als auch jenseits der nur akademischen Avantgarde liegen.

Mein Verhältnis zum Publikum


Mein Verhältnis zum Publikum ist sehr intim, weil ich möchte, dass die Musik ins Herz geht. Dafür muss ich mich selbst öffnen. Zugleich empfinde ich Dankbarkeit dafür, dass die Hörer mir ihre Zeit anvertrauen. Deswegen ist es mein großes Anliegen, dass das Publikum aus den Konzerten etwas Besonders, Bleibendes mitnimmt.

Mein Zugang zur Interpretation


Objektivität und Subjektivität

Für mich gibt es eine relativ klare Trennung zwischen Objektivität und Subjektivität bei der Interpretation von Musik. Der objektive Rahmen – die Werktreue – wird gebildet durch den Notentext und seine Auslegung sowie durch Stil und Intention des Komponisten, für die man auf seine überlieferten Äußerungen, seine historischen Instrumente und sein Gesamtrepertoire zurückgreifen kann. Ich sehe es als meine Aufgabe, diesen objektiven Rahmen zu kennen und seine Grenzen nicht zu verlassen. Innerhalb dieses Rahmens ist die Interpretation eine rein subjektive Angelegenheit. Hier ist der Interpret frei; hier spricht seine Seele mit der des Komponisten. Gelungen ist die Interpretation, wenn sie inspiriert ist.

Inspiration

Eine Interpretation ist inspiriert, wenn sie den Eindruck vermittelt, dass das Werk in diesem Moment erstmals entsteht, dass der Interpret und der Hörer selbst in dem Werk leben und dass zumindest der Hörer vergisst, dass ein Mensch mit Haut und Sehnen auf einem Klavier aus Holz und Metall ein paar Tausend Mal eine Taste drückt.

Technik und Werktreue

Für mich ist eine ausgefeilte und vor allem flexible Technik eine Anforderung der Werktreue. Ich denke, dass es keine universale Technik gibt, die zu jedem Komponisten passt. Jeder Komponist hat seine eigene Ausdruckswelt, die ich herauszuspüren versuche. Hierfür ist jeweils eine eigene Technik erforderlich.

Zum Beispiel ist das Legato bei Chopin ein anderes als bei Beethoven. Bei den Instrumenten, die Beethoven zur Verfügung standen, war der Klang und die Artikulation ausgeprägter als bei den späteren Instrumenten. Daher muss bei Beethoven mehr artikuliert werden; jeder Ton benötigt seine eigene Präsenz. Bei den Instrumenten, mit denen Chopin arbeitete, waren der Klavierklang und die Artikulation geschmeidiger. Daher lag der Schwerpunkt nicht auf der Artikulation, sondern auf der Flexibilität des Ausdrucks.

Klangfarben


Besonderen Wert lege ich auf die bewusste Arbeit mit unterschiedlichen Klangfarben.

Bei mir ist Ausgangspunkt für die Entstehung von Klangfarben die Klangvorstellung und Phantasie des Pianisten. Ich höre unterschiedliche Klangfarben innerlich. Hieran passe ich den Anschlag und den Pedalgebrauch an.

Das Klangbild kann durch minimale Anschlagsverzögerungen beeinflusst werden. Dies kann man sich etwa zunutze machen, wenn auf dem Klavier Orchesterinstrumente imitiert werden, da diese für die Klangerzeugung unterschiedlich lange benötigen.

Auch das Spieltempo kann zusammen mit der jeweiligen Raumakustik das Klangbild beeinflussen. In einem Saal mit einer hallenden Akustik benötigt der Klang mehr Zeit, um sich zu entfalten, als in einem Saal mit trockener Akustik. Um das Klangbild jeweils voll zur Geltung zu bringen, spiele ich daher bei hallender Akustik meist deutlich langsamer als bei trockener.

Vorstellungsvermögen und Technik


Ich empfinde Musikalität und Technik nicht als voneinander trennbar.

Musikalität beruht auf Technik. Offensichtlich ist, dass Technik benötigt, wer einen musikalischen Gedanken vollkommen umsetzen möchte; weitergehend kann aber das Gefühl in den (technisch ausgebildeten) Händen sogar die Bildung des musikalischen Gedankens beeinflussen.

Umgekehrt beruht aber Technik auch auf Musikalität. Zum Beispiel gilt das klangliche Vorstellungsvermögen als musikalische Eigenschaft; es ist aber auch unabdingbare Voraussetzung für die Fingerfertigkeit: Wer in der Lage ist, Musik schnell und präzise innerlich vorab zu hören, kann sie umso schneller und präziser spielen.

Rationalität und Gefühl

Auch Rationalität und Gefühl sind in der Musik nicht voneinander trennbar. Musik spricht den ganzen Menschen an. Rationalität kann ästhetisch befriedigend sein. Gefühle werden in der Kunst nicht hemmungslos, sondern mit rationalen Mitteln angesprochen.

Allenfalls das Verhältnis von Rationalität und Gefühl wandelt sich von Werk zu Werk und von Epoche zu Epoche, allerdings auf komplexe Weise. Es ist beispielsweise ein Irrtum zu glauben, dass Rationalität in der Romantik eine geringere Rolle spielt als etwa in der Klassik. Denn gerade weil die Emotionen in der Romantik ungefilterter ausgedrückt werden, ist es für den Interpreten besonders wichtig, ein Werk rational zu strukturieren, damit es nicht Intensität verliert und schwach wirkt, etwa als bloße Aneinanderreihung von schönen Stellen.